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Die Auserwählten

Fernsehfilm, ARD/WDR 2014

Die Odenwaldschule – das war die Vorzeige-Adresse der deutschen Reformpädagogik. Das Elite-Internat in Südhessen erlangte durch einen Missbrauchsskandal traurige Berühmtheit: Gerade dort, wo man mit progressiven Methoden und in familiärer Atmosphäre Schule neu denken und gestalten wollte, geschah tatsächlich unfassbar Schreckliches. Über 130 Schülerinnen und Schüler wurden in den siebziger und achtziger Jahren durch den Schulleiter und Lehrkräfte systematisch sexuell missbraucht und misshandelt. Kein einziger Täter wurde jemals verurteilt, alle Verbrechen verjährten und wurden erst über dreißig Jahre später öffentlich.

Der britisch-deutsche Regisseur Christoph Röhl, einst selbst Tutor an der Odenwaldschule, drehte bereits 2011 den Dokumentarfilm „Und wir sind nicht die Einzigen“ zum Thema und wurde hiermit auch für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Er beschäftigte sich über fünf Jahre mit dem Themenkomplex des Missbrauchs an der Odenwaldschule und legt nun mit dem Spielfilm „Die Auserwählten“ einen eindrucksvollen, beklemmenden und erstklassigen Film zu diesem Thema vor.

Ende der Siebziger wird die Biologielehrerin Petra Grust (Julia Jentsch) an die legendäre Odenwaldschule versetzt. Zunächst ist sie von der Zwanglosigkeit und der offenherzigen Atmosphäre an der Schule angetan. Auch ihr zuvorkommender und pädagogisch offenbar sehr begabter Chef Simon Pistorius (Ulrich Tukur) beeindruckt die junge Lehrerin. Allerdings zeigt sich Petra sehr schnell – hier stimmt etwas nicht: Die Schüler Trinken und Rauchen, ein Lehrer pflegt ein Verhältnis zu einer Schülerin und einige Schüler zeigen sich äußerst verstört. Besonders der 13jährige Frank Hoffmann (Leon Seidel), mit dem sich Petra bald anfreundet, scheint ein dunkles, bedrückendes Geheimnis zu haben.

Am Originalschauplatz gedreht, besticht der Film „Die Auserwählten“ zunächst durch brillante Aufnahmen. Die malerische Idylle des Internats inmitten herrlicher Landschaft und der herzliche, familiäre Umgang des Kollegiums werden eindrucksvoll in Szene gesetzt – Liebe zum Detail zeigt sich bei sowohl bei treffsicherer Ausstattung und Maske als auch beim gut platzierten Soundtrack. Behutsam führt Röhl sein Publikum durch die scheinbar heile Welt, die – je länger man in ihr weilt – immer unheilvoller, bedrückender und beklemmender wird. Schnell zeigen sich auch ohne explizite Bilder und allzu große dramaturgische Kunstgriffe die Abgründe des Terrors und der Pädophilie. Julia Jentsch und Ulrich Tukur begeistern in den Hauptrollen und auch Leon Seidel zeigt größtes Potenzial.

Der Regisseur Christoph Röhl wurde kürzlich von der schwedischen Königin mit dem „Childhood Award 2014“ ausgezeichnet und damit für seinen Einsatz im Kampf gegen sexuellen Missbrauch in Deutschland geehrt.

Obschon „Die Auserwählten“ kein Tatsachenbericht sein will und nicht sein kann, so vermag dieser großartige Film doch gleichsam zu unterhalten und nachdenklich zu stimmen.

Alex W. Würth