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Anatomie eines Falls

Nach „Toni Erdmann“ war Sandra Hüller als Newcomerin des deutschen Films in aller Munde. Danach wurde es etwas ruhiger um sie, doch seit der Uraufführung von „Anatomie eines Falls“ während der Filmfestspiele in Cannes 2023, wo der Film mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, ist klar, dass niemand mehr an ihr vorbei kommt. Sie wurde für den Oscar für die beste Hauptdarstellerin nominiert und hat beste Chancen, ihn zu bekommen, nachdem sie bei fast allen internationalen Preisverleihungen abgeräumt hat. Ihre Oscar-würdige Interpretation einer mutmaßlichen Mörderin liegt nun auch für das Heimkino auf DVD und BluRay vor.

Ein Dorf in den französischen Alpen. Die Schriftstellerin Sandra versucht, einer Studentin ein Interview zu geben, während ihr Mann Samuel, ebenfalls Schriftsteller, seine Musik richtig laut aufdreht, so dass ein weiteres Gespräch der Frauen unmöglich wird. Der elfjährige sehbehinderte Sohn Daniel ist mit seinem Assistenzhund Snoop unterwegs. Als Daniel zurück kommt, findet er seinen toten Vater vor dem Haus im Schnee liegen. Sandra kommt dazu geeilt, doch auch der herbei gerufene Notarzt kann nichts mehr für Samuel tun.
Da es sich offensichtlich um einen unnatürlichen Tod handelt, ermittelt die Polizei gegen Sandra als einzige Anwesende im Haus zum Todeszeitpunkt. Es kommt zu einem Prozess, in dem geklärt werden muss, ob es sich bei Samuels Tod um Mord oder doch um einen Selbstmord handelt. Während der Gerichtsverhandlung kommen ganz neue Dinge ans Licht, die das Gericht zumindest für möglich halten, dass es sich um einen Mord handelt. Für Daniel bestellt das Gericht eine Aufsicht, damit Sandra ihn nicht beeinflussen kann, doch Daniel hat selbst Schwierigkeiten, sich an Details zu erinnern.
Für Sandra steht alles auf dem Spiel, und niemand wagt voraus zu sagen, wie das Urteil am Ende ausfallen wird.

Der Film liegt auf DVD in der deutschen und englisch-französischen Sprachfassung (Dolby Digital 5.1) vor. An Extras finden sich neben einem Interview mit Sandra Hüller auch ein Special über den Filmhund.

Sandra Hüller scheint es geschafft zu haben, sie ist eine anerkannte, vielfach ausgezeichnete, internationale Schauspielerin. Neben „Anatomie eines Falls“, für deren Hauptrolle sie bereits alle wichtigen Filmpreise abgeräumt hat, ist sie auch in ihrer aktuellen Rolle in „The Zone Of Interest“ bereits mehrfach ausgezeichnet worden.
In „Anatomie eines Falls“ spielt sie sämtliche Emotionen durch, und das macht sie so kraftvoll und überzeugend, dass man ihr die Rolle zu jeder Zeit abnimmt. Sie spielt eine im Grunde frustrierte Frau, die von einem deutschen Kaff über London in ein französisches Kaff gekommen ist, und sich nun versucht, mit ihrer Situation zu arrangieren, was ihr Mal mehr, Mal weniger gelingt. Seit zwei Jahren lebt sie mit ihrer Familie in einem nicht einmal halb renovierten Haus in den französischen Alpen in völliger Abgeschiedenheit, was immer wieder zum Streit mit ihrem Ehemann Samuel führt. Diesen Frust, diese Verzweiflung, diese Angespanntheit spielt Sandra Hüller mit einer Perfektion, dass einem schon beim Betrachten ein ungutes Gefühl beschleicht. Ihr Mann Samuel wird von Samuel Theis gespielt, der gerne den Patriarchen spielen möchte, aber den seit dem Unfall seines Sohnes Daniel schwere Schuldgefühle plagen, die ihn nicht mehr schreiben lassen und auch sonst sein Eheleben beeinträchtigen. Auf jeden, mit dem Sandra Kontakt hat, ist er eifersüchtig und lebt seine Unzufriedenheit mit überaus lauter Musik aus.
Auch bei Gericht geht es mit Menschen weiter, die genervt und voreingenommen sind, vor allem scheint das beim Staatsanwalt sowie bei der Richterin der Fall zu sein. Einzig Rechtsanwalt Vincent, gespielt von Swann Arlaud, ist Sandras Verbündeter, wobei dessen Absichten den gesamten Film über nicht ganz klar werden.
Regisseurin Justine Triet, die auch das Drehbuch mit verfasst hat, hat ein Drama auf mehreren Ebenen geschaffen, einmal in der Familie, vor Gericht und im Leben der einzelnen Personen, das durch das intensive Spiel der Schauspielenden einen Film schafft, der einen fast schon körperlich belastet.

Wieso der Film einem offensichtlichen Trend folgt, über zwei Stunden Laufzeit zu haben, wird nicht ganz klar, da man „Anatomie eines Falls“ durchaus hier und da hätte straffen können, ohne dass an der Erzählung etwas fehlen würde. Und ausgerechnet am Schluss wurde gerafft, so dass der Film plötzlich zu Ende geht, wobei sich Zuschauende gerne noch eine Erklärung gewünscht hätten.
Wer sich aber auch die 145 Minuten der DVD einlässt, braucht gute Nerven, um durch den Film zu kommen. Das großartige Schauspiel von Sandra Hüller entschädigt aber alle Strapazen und machen diesen Film sehenswert!

Pascal May